Das Vierstufenmodell

sukadev4Das erste ist, harmonischer leben. Das ist der erste Schritt. Der zweite wäre, Fähigkeiten entwickeln. Das dritte ist, an sich arbeiten, im Sinne von Transformation. Und der vierte Schritt, man könnte sagen, Einheit. Erster Schritt ist, harmonischer leben mit sich und mit anderen, harmonischer umgehen zu können. Das betrifft, wir können immer die Asanas und Pranayamas, die auch Teil des Raja-Yoga-Systems sind, als Beispiel nehmen, da haben alle von euch die Vorkenntnisse. Man würde sagen, bei Asanas und Pranayama und Entspannung heißt es, wir lernen, Asanas so zu üben, wie sie einem gut tun, so zu üben, dass sie entspannend sind, so zu üben, dass man gesund wird, dass irgendwo man ein gesundes Körpergefühl entwickelt, dass man sich wohlfühlt in seiner Haut und in seinen Muskeln und in seinen Knochen und was da sonst noch alles da ist. Man lernt, auch die Asanas so zu finden, die einem besonders liegen, man übt die besonders. Man lässt das weg, was einem nicht so liegt. Man geht in den Asanas nur so weit, dass es nicht wehtut und findet so etwas, was sehr angenehm ist. Das ist der erste Schritt, harmonischer leben. Der zweite Schritt ist, Fähigkeiten entwickeln. Und das heißt schon bei den Asanas und Pranayama, dann macht man ein bisschen mehr, dann wird es fordernder. Und ich vermute, Amrita wird euch auch mal fordern in den Asanas. Ich nehme an, euer Lächeln heißt ja. Im Anfängerkurs, ganz am Anfang, weniger, danach gilt es aber auch, voranzugehen. Und wenn jemand sagt, „ich habe Angst vorm Kopfstand“, dann, besonders gut, man lernt. Und dann, wenn  man erst mal alleine auf dem Kopf steht, dann ist es ein tolles Gefühl, insbesondere wenn man noch nie in seinem Leben den Kopfstand gemacht hat. Was nicht heißt, dass jeder den Kopfstand machen können muss. Es gibt auch Menschen, die vielleicht irgendwelche Halswirbelsäulenprobleme haben schwererer Art, die werden andere Weisen finden an Fähigkeiten entwickeln. Oder angenommen, es fällt leicht, eine Minute in die Vorwärtsbeuge zu gehen, dann macht man eben zwei. Und angenommen, zwei Minuten fallen leicht, dann macht man vier, fünf, sechs. Und angenommen, ab fünf Minuten wird es schwierig, dann hält man zehn. Und dann lernt man, es geht so viel mehr als man gedacht hat. Und so viel kann man noch entwickeln. Und das ist eben eine weitere wichtige Phase und es ist auch hilfreich, dass man in diesen beiden Phasen irgendwo merkt, dass mal das eine dran ist und mal das andere. Es kann auch mal passieren, dass man wieder zurückgehen muss zu Phase eins, dass man merkt, man hat sich vielleicht ein bisschen übernommen und irgendwo ist es nicht so gut oder man hat irgendwo aus einem anderen Grunde, Erkältung gehabt oder man ist irgendwo geschafft und muss jetzt wieder mehr für Harmonie sorgen, also geht man wieder zurück auf diese andere Stufe des harmonischer Übens. Dann folgt der nächste Schritt, an sich arbeiten bis zur Transformation. Das ist jetzt bei Asanas, Pranayama also nicht nur, dass wir immer weiter gehen, sondern man würde sogar sagen, man überlegt genau, „welche Asanas mag ich gar nicht“ und macht genau die, um eben zu lernen, das zu machen, was man nicht mag, man arbeitet bewusst an sich. Und angenommen, man übt gerne abends und das morgens nicht so liebt, dann übt man besonders morgens. Und angenommen, man mag gar kein Pranayama, dann übt man das Pranayama. Und man übt es noch nicht mal so sehr, um die Fähigkeiten zu entwickeln – vielleicht wird es auch dauerhaft so sein, dass Pranayama nicht die Hauptpraxis sein wird, aber man übt es einfach, um an sich zu arbeiten, um sich zu transformieren und letztlich auch diese Identifikationen zu überwinden. Das bedingt natürlich, dieser dritte Schritt, dass man an den vorigen Schritten schon gut gearbeitet hat. Angenommen, man ist mit sich überhaupt nicht in Harmonie, angenommen, man hat irgendwo ein sehr geringes Selbstwertgefühl, und dann versucht man gleich an sich so zu arbeiten, das ist dann nicht gut, dann macht man sich nur nieder, anstatt zur Transformation zu kommen. Im Grunde genommen, im Yoga geht es auch darum, ein gutes Grundempfinden zu sich selbst und zu seinen Mitmenschen zu haben, eine gewisse Harmonie, ein gewisses Selbstvertrauen zu entwickeln, und dann geht es darum, auch eine gewisse Freiheit zu entwickeln. Und Freiheit entwickelt man, indem man dort an sich arbeitet. Gut, der vierte Schritt ist dann die Einheit. Man kann auch sagen, alles hinter sich lassen, im Sinne von, letztlich sind wir tief im Inneren schon vollkommen, letztlich sind wir tief im Inneren schon eins mit dem Göttlichen, letztlich sind wir tief im Inneren Teil des Göttlichen. Wie auch immer wir das ausdrücken wollen. Da gibt es dann unterschiedliche Weltanschauungen, unterschiedliche spirituelle und religiöse Überzeugungen. Und dieses ist, wie ich ganz zu Anfang gesagt hatte, nicht abhängig davon, wie gut wir praktizieren, wie intensiv wir praktizieren, es ist einfach da. Wir müssen noch nicht mal unseren Geist zur Vollkommenheit bringen. Es ist gut, harmonischer zu leben, es ist gut, Fähigkeiten zu entwickeln, es ist gut, an sich zu arbeiten und zur Transformation zu kommen, und es ist dann gut, auch jenseits dessen zu gehen. Letztlich, wir müssen eben auch aufpassen, in keiner der ersten drei Stufen können wir die Vollkommenheit erreichen. Es ist auch wichtig, dass man das merkt. Harmonischer leben. Ist es möglich, ganz in Harmonie zu leben? Es ist nochmal die Frage, ist es möglich, vollkommen entspannt zu sein? Angenommen, ihr seid vollkommen entspannt, was seid ihr dann? Tot. Amrita sagte, da ist die Pathologie irgendwo unten. Die liegen dort vielleicht – ich weiß es nicht, ob da vielleicht doch noch irgendwo ein Mechanismus ist… Also, vollkommen entspannt leben, ist nicht möglich, aber wir können sehr entspannt sein in den Asanas und es ist ein tolles Gefühl. Wenn man am Ende der Yogastunde eine Tiefenentspannung hat, ist doch ein tolles Gefühl, oder? Wenn ich mir manchmal vor Augen führe, dass es Menschen gibt, die haben noch nie im Leben eine Tiefenentspannung erfahren, dann denke ich, wir müssen noch viel mehr Yogalehrer ausbilden. Es ist irgendwie komisch, es gibt Menschen, die haben noch nicht erfahren, wie es ist, so richtig entspannt zu sein. Und manchen geschieht schon in der ersten Stunde so eine Erfahrung, manche müssen mehrere Monate regelmäßig üben, um es zu erfahren, aber irgendwann erfährt man, wie ist es, der Körper ist entspannt, er fühlt sich gut, er fühlt sich leicht, da ist irgendwo Energie, die ausstrahlt, und irgendwo diese grundlose Freude. Vielleicht wenn man nachher rausgeht, hat man das Gefühl, man will die ganze Welt umarmen. Und einfach nur, weil man sich entspannt hat. So anekdotisch, vor einer Weile habe ich mal eine Hörsendung gehört mit einem Medizinprofessor, Gesundheitswissenschaftler war er auch, und der wurde mal gefragt: „Was ist Gesundheit?“ Und der hat gesagt: „Wenn man seinen Körper nicht spürt, dann ist man gesund.“ Ich habe erst gedacht, der macht einen Witz, aber nach einer Weile habe ich dann gemerkt, der meint das ernst. Und da habe ich gedacht, armer Kerl. Er hat noch nicht gespürt, wie es ist, seinen Körper wirklich intensiv zu spüren in einer Tiefenentspannung, nicht gespürt, wie es ist, den Körper voller Prana zu spüren, wie schön es ist, zu dehnen und diese Lebendigkeit auch des physischen Körpers zu haben.

– Fortsetzung folgt –

Dies ist die 3. Folge der unbearbeiteten Niederschrift eines Mitschnitts eines Workshops von Sukadev Bretz in der Yoga Vidya Yogaschule Augsburg. Für die Erläuterung der Sanskrit Ausdrücke schaue nach im Yoga Wiki. Hier ein paar weitere Links:

Umfangreiche Infos zur Yogalehrer Ausbildung